Stimmungen der Stadt

Inhalt

Vorstadtmorgen

Sonntagnacht auf meiner Gasse

Neißer Markt

Schützenfest

Sonntag im Hotel

Herbstabende

Vormittag im Stadtpark

Nacht im Stadtpark

Späte Rückkehr des feinen Herrn

Die Gebirgspartie

Das Wunder


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27. 07. 1912

 

Vorstadtmorgen
 

Ich bin ein Morgen, den die Vorstadt schenkt:
Wo Linden duften auf den leeren, stillen,
Verschlafnen Straßen um sehr weiße Villen,
Und sich ein Fremder laß zum Bahnhof lenkt.

Wo sich zerzauste Mädchen scherzend scharen
Um eines Milchmanns Wagen und ein Kind
Vom Bäcker kommt und Hunde sich geschwind
Und ganz gehässig in die Beine fahren.

Und Burschen gähnend ihre Pferde striegeln,
Und grüne Jalousien die Welt versiegeln,
Und kleine Gärten vor den Läden blühn -

Wo Arbeiter sich zu Fabriken schieben,
Und eine ferne Uhr schlägt säumig sieben,
Und nichts als grelles Rot und Weiß und Grün!


25. 05. 1913

Sonntagnacht auf meiner Gasse

Der Große Bär steht über unserm Hof.
Im Nachbarhaus rumort Soldatenschwof.

Die Schenkentüren fallen lärmend zu.
Ein Pferd will heim und findet keine Ruh.

Eintönig winselt eine Katze. Stolz
Poltert ein Krüppel mit dem Bein aus Holz.

Ein Mann und eine Frau sind handgemein.
Zwei Fleischer schlagen sich die Schädel ein.

Aus Fernen hallt der Wächter schriller Pfiff -
Die Nacht schwimmt reglos wie ein Totenschiff.


?? 1912

Neißer Markt

Von Butter, Käse, Fleisch giert ein Geruch.
Ein kleiner Hund hockt kümmerlich und zittert,
Und ein Wurf Katzen schläft auf einem Tuch.
Geflügel drängt im Kasten, eng umgittert.

Die Bürgertöchter tun sehr häuslich hier
Und schachern viel und prüfen streng und naschen.
Vor seinem Laden lümmelt ein Barbier.
Dienstmädchen schleppen schwitzend volle Taschen.

C-V-er tragen schüchtern die Couleur
Durch Grünzeugfrauen, Schlächter und Gesindel.
Mit offnem Maule staunt ein greises Gör.
Ein Grimmiger durchschaut den ganzen Schwindel.

Mit gelber Mappe mopst sich ein Jurist.
Landleute lärmen wie auf freiem Felde.
Verschlagen schielt ein povrer Polizist.
Pilzweiber wühlen zäh im Kupfergelde.

Topfblumen leuchten auf dem Kirchenplatz,
Ganz alte Menschen schleichen aus der Messe,
Um Früchte schnuppert ein pikanter Fratz,
Pfundtanten tummeln feilschend ihre Fresse.

Ein Seifensieder sperrt das Trottoir,
Und Pensionäre bleiben stehn und kräkeln.
Ein junges Weib verschenkt ihr volles Haar
Im Sonnenschein, indes Vergilbte mäkeln.


1912

Schützenfest

Voll Eitelkeit und stolz auf ihre grünen,
Verschnürten Röcke wanken sie im Takt
Mit schweren Schritten und mit äußerst kühnen,
Gebieterischen Blicken, steil, kompakt.

Sie grüßen sehr jovial zu den Balkonen
Und fühlen sich den einen Tag als Herrn,
Die Federhüte dünken ihnen Kronen
Und ihre Fahne als ein Heilandsstern.

Der König trägt sich hin mit Würdebacken
Als wie ein feister, preisgekrönter Stier,
Die Kette baumelt um den breiten Nacken,
Und um den Hintern blüht das Bandelier.

Rings starrt das Volk und macht sehr böse Witze
Und lächelt, doch ihr Lächeln birgt viel Neid.
Der rote Zieler an des Zuges Spitze
Ist der Gesalbte ihrer Heiterkeit.

Schon leiser lacht man über den Zylinder
Des Bürgermeisters und den Herrn Kaplan -
Dann gehn im Takt begeistert, forsch die Kinder,
Und endlich schließt dem Zug sich alles an.


1912

Sonntag im Hotel

Handwerker machen sich am Stammtisch breit
Mit feisten Frauen, die gelangweilt plappern.
Die Männer reden salbungsvoll und klappern
Mit ihren Gläsern in Verlegenheit.

Denn jeder wäre lieber ganz allein
In seiner kleinen Kneipe, wo er freier
Und lauter sich benimmt, und wo Herr Meier
Der Mittelpunkt im Abendstelldichein.

Heut hocken sie ganz reglos wie verdammt
Zu schwerer Pön und streichen ernst die Bärte
Und ärgern sich, weil irgendein Gefährte
»Sich gehn läßt«, und ihr rundes Antlitz flammt.

Auch der Herr Sohn Student ist da, verbrämt,
Gewichtig, gravitätisch und geziert,
Der einen allzu feinen Mann markiert
Und sichtlich sich ob seiner Sippe schämt.

Und rote Töchter fletschen hingeglüht
Mit Wackelbrust und allzu breiten Hüften,
Die sich durch einen schweren Seufzer lüften,
In zweifelhafter Jungfernschaft und prüd.


1912

Herbstabende

O abendliches Durch-die-Straßen-Bummeln,
Wenn lindes Licht aus allen Läden langt
Und unser Bild in jedem Spiegel schwankt
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

O erste Wiederkehr der alten Mimen,
In strengem Faltenwurf und schwer umwölkt,
Und ihre Stimme, die in Pathos schwelgt,
Schlägt der umflorten Herbstluft schneidend Striemen!

O erste Wiederkehr auch der Soubretten,
Im Sommerputz noch, abenteuerlich,
Und ihre Sehnsucht prüft: »Dich ... ?« oder: »Dich ... ?«
Und landet schließlich in den Leutnantsbetten.

O Mondallee der weißen Bogenlampen!
Aus deren Kronen fällt der seidne Schnee
Auf der Pleureusen sanftes Defilee
Und rieselt über Brunnenrand und Rampen.

Ein Dichter ficht durch das Gewimmel fluchend,
Ganz in sein Schicksal und sein Joch verstrickt,
Dem Gram und Haß aus tiefen Augen blickt,
Die Ungetreue, Heißgeliebte suchend--

O Gaslichtgruß aus lockenden Kontoren!
O Freuden einer Frau - die mich vergaß! -
O jugendlich umduftete Mamas!
O schmale Mädchen, die sie jung geboren!

O Schaufenster mit märchenmatten Roben,
O Spitzenwunder, Seide und Korsett,
Mit Träumen von Entkleidung, Glück und Bett,
Und knisterndem Ins-Paradies-Gehoben!

O der gedämpfte Schein aus Schenkenstuben,
Mit Wärme, Frieden und Geborgensein!
O Dach der Feigheit--- Und ich bin allein! -


1912

Vormittag im Stadtpark

Schwarze Strümpfe, die durchbrochen sind,
Wollen lästerlich Reklame spielen,
Harte Schüler werden weich und schielen,
Ungeniert betätigt sich ein Kind.

Schwindsuchtskrüppel kriechen krumm und krank,
Kreise werden in den Weg gekritzelt,
Molligkeiten väterlich gekitzelt.
Lästergreise drücken eine Bank.

Kindermädchen quatschen viel von ihm,
Jöhren fliegen schwapp und liegen lange,
Eigensinnig orgelt eine Range,
Pensionäre werden still intim.

Ein gezierter junger Lehrer wippt
Als Reservegott vor seiner Klasse,
Ein Beleibter lüftet seine Masse,
Die er ächzend auf ein Kissen kippt.

Totenstarr zerglüht der Gondelteich,
Der Verleiher pinselt seine Boote,
Eine Gans liest schwebend im Tovote,
Nascht, speit Kerne aus und lächelt bleich.

Gegen Hunde wird ein Wächter barsch,
Tische stehn am Restaurant, vergessen,
Jemand hat bei einem Bier gesessen,
Und der Phonograph quarrt einen Marsch.

Bahner haben Babys an der Hand,
Biedergreise schmauchen ihre Zeitung,
Mütter plauschen breit von »Zubereitung«,
Nackte Glieder popeln in den Sand.

Zwei Verlobte dürfen abseits sein,
Mitgenommne brüten lang auf Brücken,
Unheilvoll benehmen sich die Mücken.

Tanten nudeln sich in Tücher ein.


07. 08 1912

Nacht im Stadtpark

Ein schmales Mädchen ist sehr liebevoll
Zu einem Leutnant, der verloren stöhnt,
Ein Korpsstudent mokiert sich, frech, verwöhnt,
Und eine schiefe Schneppe kreischt wie toll.

Ein Refrendar bemüht sich ohne Glück
Um eine Kellnerin, die Geld begehrt,
Ein Abgeblitzter macht im Dunkel kehrt,
Und eine Nutte schwebt zerzaust zurück.

Zwei Unbestimmte prügeln einen Herrn,
Mit Uniformen zankt ein Zivilist,
Ein Jüngling merkt, daß er betrogen ist,
Und zwei Verschmolzne haben schnell sich gern.

Ein starker Bolzen und ein Musketier
Sind ganz in eine graue Bank verwebt,
Ein Gent an einem Ladenfräulein klebt,
Ein greiser Onkel schnuppert geil und stier.

Ein Weib mit bloßem Kopf wird sehr gemein,
Ein Louis lauert steif und rührt sich nicht,
Ein Frechdachs leuchtet jeder ins Gesicht,
Und ein Kommis umfaßt ein weiches Bein.

Es raschelt in den Sträuchern ungewiß
Und tappt gesträubt auf einen steifen Hut,
Die Bäche liegen still wie schwarzes Blut,
Und Bäume fallen aus der Finsternis.

Ein Johlen rollt die Straße hin und stirbt,
Ein Wurf ins Wasser, irgendwo, ganz dumpf,
Ein Mauerwerk wächst wie ein Riesenrumpf,
Ein unbekanntes Tier erwacht und zirpt.

Zwei Männer flüstern einen finstern Plan,
Ein welkes Wesen wehrt sich hoffnungslos,
Ein Schüler hat ein Bahnerweib im Schoß,
Im Teich zieht schwer ein ruheloser Schwan.

Und Sterne stolpern in die tiefe Nacht,
Und Obdachlose liegen wie erstarrt,
Und bleiern hängt der Mond, und hohl und hart
Glotzt breit ein Turm, verstockt und ungeschlacht.


?? 1912

Späte Rückkehr des feinen Herrn

Ihn ängsten die Betrunknen sehr, der grämlich
Nach Hause stolpert mit verbostem Brummen,
Er schwankt auf der Chaussee mit starren, stummen,
Unsichren Mienen, vorwurfsvoll und dämlich.

Er sucht in seinen Mantel sich zu mummen
Und drückt sich hin im Schatten, grau und grämlich,
Und manchmal mimt er Mutigwerden, nämlich:
Er zwingt sich, ein gemeines Lied zu summen.

Und manchmal rückt ein Lichtschein, nah und nah,
Und ist als eines Wagens Lampe da
Und rollt vorbei und schwindet hohl und morsch -

Dann grüßt des Bahnhofs Leuchtgewirr und dann
Reckt er sich auf und wächst und wird ein Mann
Und schreitet in die Stadt sehr fein und forsch.


1912

Die Gebirgspartie

Ferienbrüder klecksen launig, loden
Auf den Aussichtstürmen. Röchelt fett
Ein robustes Sängerheim-Quartett,
Voll das Herz und feist der Hosenboden.

Oberlehrer sparen auf Terrassen,
Futtern sich an Panoramen satt,
Weiden wichtig auf dem Lieblingsblatt,
Festgeschraubt bei leeren Kaffeetassen.

Autler hasten spärlich über Speisen,
Eingeborne mit dem Maßkrug starrn
Kritisch nach dem angedreckten Karrn.
Steuerräte planen tapfer Reisen.

Wirte plätschern Rechnungen geschwinde.
Zwei Verliebte spielen Ehepaar.
Licht und lockend weht viel offnes Haar
Sonnenüberhuscht im Gipfelwinde.


 

15. 11. 1912

Das Wunder

Der rote Schein von einer Pufflaterne
Fließt wie ein Teppichstreifen übers Pflaster,
Aus einer Bibelstunde tapst ein Paster
Und spuckt ins Rinnsteinwasser Pfirsichkerne.

Ein Trunkner steht ganz hell und zählt den Zaster,
Gestalten drücken sich um die Kaserne,
Ein Auto schwirrt verpuffend in die Ferne,
Und in der Luft liegt lockend Rausch und Laster.

Umschlungne lehnen dunkel in den Toren,
Ein Droschkenkutscher fährt zum letzten Zug,
Und in die Pfützen fallen Fahrradlichter -

Und irgendwo wird jetzt ein Kind geboren,
Das eine Jungfrau sieben Monat trug,
Das wird ein Held, Mönch, Narr, Lump, Krämer oder Dichter.


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